Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht

Arbeitnehmer sind mit Aufnahme ihrer Berufstätigkeit grundsätzlich in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI). Der Arbeitgeber hat hierfür die Anmeldung des versicherten Arbeitnehmers zu bewirken und als Beitragsschuldner den geschuldeten Beitragssatz monatlich vom Bruttoarbeitsentgelt abzuführen (§§ 174 Abs. 1 SGB VI, 28e SGB IV). Die Hälfe des Gesamtbeitrages, den der Arbeitgeber abzuführen hat, darf er seinem versicherten Arbeitnehmer von dessen Bezügen als Beitragsanteil abziehen (§ 168 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI, 28g SGB IV).

Nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI besteht für Mitglieder berufsständischer Versorgungswerke die Möglichkeit der Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Diese trägt einer sinnvollen Vorsorgegestaltung des einzelnen Freiberuflers Rechnung, beginnt doch kaum ein Angehöriger eines freien Berufes seine Berufsausübung in freier Niederlassung, sondern folgt einer Phase angestellter Berufsausübung zu Beginn der Karriere erst der Wechsel in die Selbstständigkeit. Die Befreiungsmöglichkeit schon zu Zeiten angestellter Berufsausübung sichert so den Aufbau einer einheitlichen Altersvorsorge. Mit der einem Mitglied eines berufsständischen Versorgungswerks eingeräumten Möglichkeit, nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI die Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu erlangen, koordiniert das SGB VI damit die selbstständig nebeneinander stehenden, sich partiell überschneidenden Systeme der berufsständischen Altersvorsorge und der gesetzlichen Rentenversicherung. Diese Koordinationsregelung soll den Berufsstandsangehörigen die Verpflichtung nehmen, Beiträge zu zwei weitgehend funktionsgleichen sozialen Sicherungssystemen zahlen zu müssen.

Die Pflichtmitgliedschaft im berufsständischen Versorgungswerk berechtigt einen Angestellten auf seinen seit 1. Januar 2023 zwingend elektronisch zu stellenden Antrag (siehe dazu: https://www.abv.de/aktuell.html) hin zur Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung, wenn am jeweiligen Ort der Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit für ihre Berufsgruppe bereits vor dem 1. Januar 1995 eine gesetzliche Verpflichtung zur Mitgliedschaft in der berufsständischen Kammer bestanden hat, nach näherer Maßgabe der Satzung einkommensbezogene Beiträge unter Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze zu zahlen sind und auf Grund dieser Beiträge eine der gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbare Leistungsstruktur für den Fall verminderter Erwerbsfähigkeit und des Alters sowie für Hinterbliebene vorhanden ist. Alle diese Anforderungen erfüllen die berufsständischen Versorgungswerke der klassischen verkammerten freien Berufe regelmäßig. Eine fortgesetzte freiwillige Mitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk berechtigt dagegen weder zur Erteilung noch zur Aufrechterhaltung einer Befreiung von der Rentenversicherungspflicht. Sie ist nach der Rechtsprechung ausschließlich und ausnahmsweise nur für bestimmte Altfälle ausreichend, wenn sie (im Anschluss an eine Pflichtmitgliedschaft) eine ansonsten in einer anderen berufsständischen Versorgungseinrichtung eintretende Pflichtmitgliedschaft ersetzt und solche befreiungsfähige berufsständische Mitglieder betrifft, die ihren Arbeitsplatz vor dem 31.10.2012 gewechselt haben (Urteil des LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26.05.2020 - L 13 R 1664/19 (https://openjur.de/u/2353114.html).

 

Grundsätzlich muss für jede neue Beschäftigung ein neuer Befreiungsantrag gestellt werden, es sei denn, es handelt sich um eine zeitlich befristete, berufsfremde Beschäftigung, auf die eine für die vorhergehende berufliche Tätigkeit ausgesprochene Befreiung nach § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI erstreckt werden kann; dies ist nur ausnahmsweise in engen Grenzen möglich.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat mit seinen Entscheidungen vom 31. Oktober 2012 das oftmals als „Magna Charta“ der berufsständischen Versorgung bezeichnete Befreiungsrecht grundsätzlich umgestaltet. Die Rechtswirkung einer Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI (und § 231 SGB VI) ist im Sinne von § 6 Abs. 5 S. 1 SGB VI nunmehr auf das jeweilige Beschäftigungsverhältnis wegen einer einheitlichen und wortgetreuen Auslegung des Begriffes „Beschäftigung“ im Sinne von § 7 SGB IV beschränkt. Das BSG hat damit eine 20 Jahre andauernde Verwaltungspraxis, nach der Angehörige der Freien Berufe nicht bei jedem Tätigkeitswechsel einen neuen Befreiungsantrag zu stellen brauchten, solange eine einmal erteilte Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI unter der jeweiligen Berufsbezeichnung (z.B. als Arzt, Apotheker, Rechtsanwalt) fortwirkte, beendet. Zukünftig muss bei jedem Arbeitgeberwechsel ein neuer Befreiungsantrag gestellt werden. Die Antragsfrist des § 6 Abs. 4 SGB VI von drei Monaten wirkt dabei konstitutiv. Hält der Angehörige eines Freien Berufs diese Frist nicht ein, kann eine Befreiung erst ab Zeitpunkt der Antragstellung erfolgen, unabhängig davon, ob er zuvor bereits seine Tätigkeit z.B. als Arzt, Apotheker, Rechtsanwalt ausgeübt hat.

Die Befreiung erfolgt grundsätzlich nur wegen der jeweiligen Beschäftigung, auf Grund derer eine Pflichtmitgliedschaft in der berufsständischen Versorgungseinrichtung besteht. Negativ formuliert kommt eine Befreiung von der Versicherungspflicht für berufsfremde Beschäftigungen oder Tätigkeiten daher grundsätzlich nicht in Betracht. Nach § 6 Abs. 5 S 2 SGB VI führt allerdings der übergangsweise Wechsel in eine befristet berufsfremde Beschäftigung, die als solche nicht zur Befreiung von der Versicherungspflicht wegen der Mitgliedschaft im Versorgungswerk berechtigen würde, nicht zum Widerruf der Befreiung, wenn diese infolge ihrer Eigenart (1. Alternative) oder vertraglich im Voraus (2. Alternative) zeitlich begrenzt ist und der Versorgungsträger für die Zeit der Tätigkeit den Erwerb einkommensbezogener Versorgungsanwartschaften gewährleistet.

„Berufsfremde Beschäftigung“ meint jede Tätigkeit, für welche die Voraussetzungen einer berufsgruppenspezifischen Befreiung nach § 6 Abs. 1 S 1 Nr. 1 SGB VI nicht vorliegen. § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI ist Ausdruck der versicherungsrechtlichen Kontinuität der berufsständischen Versorgung. Im Falle der Ausübung einer zeitlich begrenzten berufsfremden Tätigkeit soll die Möglichkeit bestehen, die Beitragszahlung zur berufsständischen Versorgung fortzusetzen, um dem Mitglied angesichts immer vielfältigerer Erwerbsbiographien einheitliche Versicherungsverläufe in nur einem Versorgungssystem zu garantieren.

Das BSG hat mit seinen Entscheidungen vom 31. Oktober 2012 deshalb bestätigt, dass die Unterbrechung einer kammerpflichtigen Erwerbstätigkeit („Hauptbeschäftigung“) durch eine berufsfremde, zeitlich befristete Tätigkeit der vom Gesetzgeber intendierte Regelfall der Befreiung nach § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI ist. Dass darüber hinaus eine zeitlich befristete berufsfremde Tätigkeit, die als Nebentätigkeit neben dem Kammerberuf ausgeübt wird, über § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI zu befreien ist, steht nach der ganz überwiegenden Auffassung in der rechtswissenschaftlichen Literatur völlig außer Zweifel.

Das BSG ist weiterhin der Auffassung, dass die Befreiung nach § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI kein eigenständiger Befreiungstatbestand ist, sondern aufgrund des Wortlauts der Vorschrift („erstreckt sich“) stets eine berufsgruppenspezifische Befreiung nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI voraussetzt. Angehörige eines Freien Berufs, die bei Antragstellung über keine Befreiung nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI verfügen - z.B. Berufsanfänger, Selbständige (noch streitig) - können deshalb zukünftig für berufsfremde Tätigkeiten (z.B. als Assistent eines Bundestagsabgeordneten) keine Befreiung über § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI mehr erhalten.